Ahasver der ewige Jude

Zurück

Ein starker Regen trommelte auf die Schindeldächer von Safien. Ganze Wasserfälle klatschten von den übervollen Holztraufen auf die Höfe, und so hatte es schon den ganzen Tag heruntergeschüttet.

Am Fenster des untersten Hauses am Platz standen gegen Abend zwei Kinder und wunderten auf die Strasse hinaus, in der ganze Bäche zusammenliefen. Da huschte eine graue Gestalt draussen vorbei. Die Kleinen fuhren zusammen, so dass die Mutter, die mit dem Grossvater  eben am Käsen war, sich umdrehte. Dort stand in der Türspalte auch schon ein steinaltes Männchen in zerrissenen Kleidern. Von seinem Gesicht war hinter dem grauen Bart nichts weiter zu sehen als die fürchterliche Hakennase, die daraus hervorstiess und die tiefliegenden Augen. Das unruhige Flackern darin konnte einem angst und bang machen. Mitleidig forderte indes die Hausmutter den unheimlichen Bettelmann zum Eintreten auf und stellte einen Sitz vor das Herdfeuer, das unter dem brodelnden Milchkessel brannte. Da solle er ausruhen, seinen regentriefenden Mantel trocknen und sich selber wärmen. Der Fremde würdigte die Stabelle keines Blickes, aber als ihm die Frau mildherzig Molken zu trinken anbot, griffen seine knochigen Hände gierig nach der Labe. Weil sie aber noch siedend heiss war, langte er eine zweite Gebse herunter und goss das Getränk von einer in die andere, fieberhaft rasch und zitternd, aber so kräftig, dass der Molkenstrahl hochauf bis an die Diele spritzte. Doch jedesmal fiel er genau wieder in das Gefäss zurück, ohne dass ein Tropfen daneben kam, trotzdem der Alte dabei unstet umherschritt. Und in immerwährendem Gehen, auf und ab, auf und ab, schüttete er die Milch hinunter und stürzte aus dem Haus, nachdem er kaum einen flüchtigen Dank gemurmelt.

Den Leuten graute. Sie schauten ihm nach, da er im strömenden Regen, wie vom Sturmwind vorwärts geschoben, talauf hastete. Drüben vor der hohen Bergwand aber wuchs er unversehens zu einem riesenhaften Schatten an und stieg oder flog vielmehr in gehetzter Eile den schwindelnd steilen Pfad empor, bis er oben am Grat jäh wie ein Gespenst verschwand.

„Das war der laufende Jud!“ sagte der Grossvater, der zuerst die Furcht abschüttelte. Und er erzählte den ängstlich an der Mutter hangenden Enkelkindern von Ahasver, dem ewigen Juden. Zu Jerusalem stand einst sein Haus am Weg nach Golgatha. Vor seiner Tür wollte Jesus unter der Kreuzeslast zusammenbrechend ausruhen. Doch er trieb ihn erbarmungslos hinweg, und schwer büsst der Hartherzige nun mit der Strafe, ewig wallen und wandern zu müssen. Nimmer und nirgends darf er den flüchtigen Fuss ruhen lassen. So hat man ihn zu allen Zeiten und überall, im Tiefland und auf dem Hochgebirge, Tag und Nacht wandern sehen, auch beim Essen in einem fort gehend. Er soll immer dasselbe Geldstück in der Tasche haben, das sich nach jedem Ausgeben wieder darin finde.

Was die andern zu hellem Behagen üben, das Wandern durch die Welt, dazu ist er als zu seiner ewigen Qual verdammt. Und kein Fussbreit Erde darf seinen wegsatten Sohlen Rast, keine kühle Nachtstunde seinen brennenden Augen Schlummer gewähren. Er geht mitten durch die jungen, eroberungsfrohen Völker, er trifft in den Gebirgstälern auf ihre verscheuchten Reste. Er sieht mächtige Staaten ihre Grenzsteine in stolzer Runde pflanzen und findet diese wieder umgestürzt. Er kommt durch blühende Landstriche und sieht sie wieder verödet, und er wird der letzte müde Mensch sein, der über die vereiste Erde streift.

Als er einige Zeit nach seiner Verfluchung zum erstenmal die Alpen überschritt, stieg er die Grimsel hinan. Vom Eis entfesselt bis zu ihren Quellen im Schoss der Berge, rauschten damals Rhone und Aare, und wie jetzt am fröhlichen Rhein lebte ein munteres Menschengeschlecht an ihren Ufern. Die sonnigen Hänge waren mit Reben bekränzt. Darüber wiegten Eichen und Buchen ihre grünen Kronen, und stattliche Dörfer lagen in Obstbaumwäldern versteckt. Wo der unglückselige Wanderer anpochte, lud man ihn gastfreundlich ein, sich zu erquicken an dem edlen Wein, den die Halden reiften. Aus den hellen Wohnungen, den frischen Gesichtern der Kinder wie der Grossen glänzte behagliche Lebendfreude. Aber nicht weilen durfte der Unselige in diesem Lande des Glücks. Sein irrer Fuss trug ihn weiter nach dem Norden.

Manches müde Jahr hatte er verwandert, und wieder fand er sich den Schneegipfeln der Alpen gegenüber. Er gedachte des frohgemuten Volkes, das ihm damals so herzlich entgegentrat, des schönen Landes , das er damals durchzog. Er beschloss, sich noch einmal an dem Anblick zu laben. Aber eine düstre Ahnung beklemmte seine Brust, als er die Meienwand emporschritt. Grauer Nebel verbarg das umliegende Land. Droben angelangt, sah er ihn zerflattern vor einem Windstoss, der aus dem Haslital hervorbrach. Er glaubte sich verirrt zu haben. Fichtenwälder bedeckten die steilen Flanken des Gebirges, laut knarrten die hohen Stämme unter der Wucht des Sturmes. Aus ihren Wipfeln gellte das heisere Krächzen der Raben und das Wimmern aufgescheuchter Eulen ihm entgegen. Er suchte, lange vergebens, menschliche Wohnungen. Endlich fand er ein paar armselige Hütten. Die Köhler, welche sie bewohnten, ein gutmütiger, aber ernsthafter und schweigsamer Volksschlag, teilten mit ihm, was sie hatten, schwarzes Brot und Bier, aus den jungen Sprossen der Tannen gebraut.

Abermals nach vielen Jahren betrat der ewige Jude das ihm so wohl bekannte Gebirge. Der Pfad, den er früher gewandelt, war verschüttet. Kein Vogelsang und kein Rabengekrächze schallte ihm entgegen. Über kahle Felsen strauchelte sein Fuss, der kaum irgendwo einen spärliche Grashalm niedertrat. Todesschweigen herrschte ringsher, nur manchmal pfiff aus dem Trümmergestein in durchdringendem Ton ein Murmeltier. Und an den Berghalden, wo früher Reben gegrünt und Eichen sich gewiegt hatten, an denselben Halden, die später Fichten getragen, hingen nun mächtige Eismassen herab, und Gletscher füllten auch die wilden Schluchten. Nackte Felsnadeln nur ragten da und dort aus dem Weiss der Schneeflächen, von eisigen Winden umpfiffen. Von Menschen sah Ahasver keine Spur. Er, der Verdammte, war das einzige Wesen ihres Geschlechts in dieser Gegend, auf der ein ähnlicher Fluch zu lasten schien. Und er liess sich auf einen Stein nieder, lehnte die gramgefurchte Stirn an einen Granitblock tief im Tale, wo ringsum Felswände ihn einschlossen, und weinte. Zum erstenmal auf seiner qualvollen Wanderung war ihm hier vergönnt, eine kurze Spanne zu rasten. Und als er sich aufmachte, um in das Haslital hinabzusteigen, zu bewohnten Gefilden, hatten seine Tränen  einen kleinen See gebildet. Dessen Wasser aber sind trotz der vielen Rinnsale, die aus den Gletschern ihnen zueilen, warm wie jene ersten Tränen Ahasvers.

Zum vierten Male wird er hieher kommen. Dann wird ein einziger Gletscher sein, was vom Brienzersee bis ins Wallis hinauf jetzt noch grüne Alp ist. Und auf ewigem Eis muss er von dort aus dann die Stätte aufsuchen, wo allein er findet, was ihm sonst überall auf Erden versagt ist: Ruhe für seinen müde gehetzten Leib.

(Aus "Schweizersagen" von Arnold Büchli; Verlag von H.R. Sauerländer & Co., Leipzig und Aarau)

Zum Seitenanfang

Zurück